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Herrn Kranichs Rabe
Eine kleine Kurzgeschichte, die sich wirklich lohnt zu lesen. Is von nem Freund von mir (hab die erlaubnis^^)
Herrn Kranichs Rabe (Von B.B. aka mercutio)
Herbst.
Der eigene Atem steigt zum ersten Mal als kleine Dampfwolke vor dem Gesicht auf, die Bäume verlieren ihre Blätter und zeigen gleichzeitig eine Vielfalt an Farben, die einzeln zu beschreiben ein Ding der Unmöglichkeit ist. Dieses Entstehen und Vergehen veranlasst viele Menschen zum Nachdenken. Die, welche keinen Partner haben, werden nachdenklich, vielleicht ein wenig melancholisch und irgendwie scheint sich jeder wieder nach den wärmeren Temperaturen zu sehnen, die im vergangenen Monat vorherrschten.
Jeder klagt, dass es kalt sei und dass der Herbst doch so kurz wie möglich sein möge, schließlich gibt es ja nicht einmal Schnee, trotz der Kälte.
Insgeheim aber ertappen sich viele doch dabei, wie sie gedankenverloren umherwandern und die Zeit des Nachdenkens genießen.
In so einem Monat befinden wir uns also.
Die Blätter fallen, die Tage werden kürzer, die Luft kälter und Herr Kranich besitzt einen Raben.
Das heißt, er besitzt ihn noch nicht lange; eigentlich besitzt er ihn gar nicht, denn der Rabe gehört ihm ja nicht wirklich.
Es ist so, dass Herr Kranich eines Tages nach seinem wöchentlichen Einkauf einen Raben auf seinem Balkon fand.
Herr Kranich ist ein älterer Mann, etwa 50 Jahre alt. Er ist schlank und sehr groß. So groß, dass er schon fast so dünn und knorrig wie eine Vogelscheuche wirkt. Geld hat er nie viel besessen, aber das macht ihm auch nichts aus.
„Das Einzige was zählt, ist der Verstand“, könnte man ihn sagen hören, wenn man mit ihm zusammenleben würde.
Das ist natürlich nur rein theoretisch.
Er wohnt in einem Viertel mit sehr vielen Hochhäusern im siebten Stock in einer kleinen Wohnung, aber das weiß keiner seiner Mitbewohner, denn Herr Kranich redet nicht viel mit den Menschen in seinem Haus. Jeder hat den alten Mann mit der unauffälligen grauen Kleidung schon gesehen, jedoch geredet hat noch keiner mit ihm.
Es ist ein großes Tier, sehr dunkel, schwarz, ein Rabe eben. Er hat sich einen Flügel gebrochen, geprellt oder sonst was, jedenfalls kann er nicht mehr fliegen.
Herr Kranich stellt seine Einkaufstasche auf einem schmalen Tisch gegenüber der Kochstelle ab und sieht durch das sauber geputzte Fenster der Türe auf den Balkon hinaus.
Der Rabe sieht ihn ebenfalls an. Natürlich nicht richtig, denn Raben sind nicht wie Menschen, sie sind Tiere und das weiß Herr Kranich, denn Herr Kranich ist Realist.
Langsam und von einem leisen Quietschen begleitet, öffnete Herr Kranich die Türe und tritt hinaus in die kalte Luft. Der Rabe macht ein paar lahme Versuche zu fliegen und schlägt ein paar Mal mit den Flügeln, als wolle er Herrn Kranich zeigen, dass er sich einen der Beiden gebrochen hat. Oder geprellt, wer weiß das schon so genau.
Herr Kranich sieht den Raben an und der Rabe schaut wieder zurück. Herr Kranich überlegt. Er überlegt sich, ob er dem Raben helfen soll, denn eigentlich soll man nicht in die Natur eingreifen.
Wenn ein Tier stirbt, dann stirbt es, dass ist der Lauf der Dinge.
Andererseits ist Herrn Kranichs sauber geputzte Glastüre nicht natürlich und er hat auch keine Lust einen toten Raben auf dem Balkon liegen zu haben, also kommt er zu dem Entschluss, den Raben zu einem Tierarzt zu bringen.
Der Rabe kräht ein paar Mal.
Das hört Herr Kranich nicht mehr, er ist in seiner Wohnung und sucht einen alten Karton. Es ist nicht wichtig, dass er keinen Deckel mehr hat, der Rabe kann ja ohnehin nicht wegfliegen.
Herr Kranich legt seinen grauen Schal an und zieht seinen Mantel an. Er ist ebenfalls grau und unauffällig, genauso wie der Schal und der Rest von Herrn Kranichs Kleidung.
Mit einem nachdenklichen Blick auf die Stadt, die wie ein riesiges Lebewesen vor, oder besser unter ihm liegt, tritt er noch einmal auf den Balkon hinaus.
Eigentlich hatte er nie eine Wohnung so weit oben haben wollen, aber eine Frau, die jetzt im zweiten Stock lebt, hatte unbedingt nach unten ziehen wollen und Herrn Kranich war es letztendlich egal gewesen.
Der Rabe...
Langsam geht Herr Kranich auf ihn zu. Es ist ja nicht so, dass viel Platz zum vorsichtigen Annähern vorhanden ist, der Balkon ist gerade drei mal zwei Schritte groß. Er nimmt den Raben auf und setzt ihn in den Karton. Nachdenklich blickt er durch eine kleine Dunstwolke auf den Raben hinab. Er sitzt ganz ruhig auf dem Boden des Kartons, versucht nicht einmal davonzufliegen.
Auf der Straße vorm Haus schaut Herr Kranich noch einmal zu seiner Wohnung hinauf, nur kurz, dann macht er sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie liegt nur zehn Schritte entfernt und eigentlich bringt er die Strecke jedes Mal hinter sich ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen, oder angesprochen zu werden.
Nach nur 3 Schritten steht ein kleines Mädchen vor ihm. Herr Kranich schätzt sie auf 6 Jahre.
Sie schaut ihn an, dann auf den Karton:
“ was ist dass denn für ein Vogel?“
„Das ist ein Rabe“
„Der ist aber schön“
„Nun, er ist schwarz“
„Kann der fliegen“
„Nein, ich denke nicht“
„Darf ich ihn mal anfassen?“
„Nein, und jetzt entschuldige mich, kleines Mädchen, denn wenn ich diese nette, aber belanglose Unterhaltung noch weiter führe, dann werde ich meinen Bus verpassen“
Ohne ein weiteres Wort geht Herr Kranich weiter. Das kleine Mädchen schaut ihm mit großen Augen nach und fragt sich, warum der dünne alte Mann sie gerade so angefahren hat und was dieses komische Wort belanglos heißt.
Es ist nicht Herrn Kranichs schuld, dass er so kurz angebunden war gegenüber dem kleinen Mädchen, er hat einfach nicht die nötige Übung im Umgang mit Menschen.
Der Bus kommt zum stehen.
Ein graues Paar Schuhe berühren den Asphalt. Die Schuhe sind nicht gepolstert, sie sind auch nicht bequem. Es sind einfach Schuhe, die dazu dienen einem die Kälte der gefrorenen Erde fernzuhalten. Sie gehören übrigens zu Herrn Kranich.
Er schaut nach links, nach rechts, dann beginnt er zu gehen, unter dem Arm einen Karton in dem ein Rabe sitzt.
Der Tierarztstation befindet sich in einem großen, alten Einfamilienhaus. Es ist weis gestrichen, aber an manchen Stellen ist die Farbe abgebröckelt und einem fleckigen grau gewichen. Auch die Fensterläden sind augenscheinlich schon seit längerer Zeit nicht mehr lackiert worden und so haben Wind und Wetter ihre Spuren daran hinterlassen. Herr Kranich vermutet, dass sie einmal blau gewesen sein mussten.
Er tritt auf einen schmalen Treppenabsatz vor der Tür und drückt einen winzigen runden Knopf, der in die Wand eingelassen ist. Darüber befindet sich ein Sprechkasten und aus dem kommt jetzt die Stimme einer Frau. Sie hört sich ziemlich gelangweilt an.
„ja?“
„Mein Name ist Herr Kranich und ich habe hier in diesem Karton einen Raben.“
„das sehe ich, was ist mit dem Tier.“
„ich denke er hat sich den Flügel gebrochen.“
„wissen sie das genau?“
„nein.“
„warum sind sie dann mit ihm hier her gekommen?“
„nun...er kann nicht fliegen, daraus schloss ich, dass er sich einen Flügel gebrochen hat.“
Zuerst ein „hm“ und dann ein leises „piep“.
Das Türschloss entriegelt sich mit einem leisen “klick“ und Herr Kranich tritt ein.
Früher, als er noch eine Katze hatte war er öfters hier gewesen. Damals war die Türe auch immer offen gewesen. Irgendwann hatten Obdachlose von der Straße begonnen sich im Wartezimmer aufzuwärmen und die Leute nach Kleingeld gefragt und so hatte der Tierarzt eben eine kleine Kamera und eine Sprechanlage vor der Tür installiert.
Herrn Kranich hatten die Obdachlosen nie gestört. Wenn sie ihn nach Kleingeld gefragt hatten, dann hatte er ihnen einfach gesagt, dass sie keines bekommen würden. Somit ließen sie ihn, wenn auch mit gemurmelten Verwünschungen, zufrieden und beschäftigten sich mit den anderen Leuten, die es zuerst mit Ausreden versuchten, letztendlich aber doch in ihren Taschen nach Kleingeld wühlten.
Das war das Problem der Leute, sie konnten einfach nicht die Wahrheit sagen, wie sie war, weil es ihnen unangenehm war. Das hatte Herr Kranich nie verstanden, denn eigentlich wollten die Leute auch in Wahrheit kein Geld hergeben und dass wusste jeder im Raum, taten es dann aber doch, nur um den Anschein zu erwecken, sie wären nicht so geizig wie sie trotz allem waren. Die Menschen sind komisch und das war auch der Grund, warum Herr Kranich sich irgendwann von ihnen distanziert hatte. Von allen.
Im Wartezimmer sitzt eine Frau mittleren Alters mit ihrem Sohn. Sie sieht müde aus, wahrscheinlich war sie ganze Nacht aufgewesen. Sonst ist das Wartezimmer leer.
Vermutlich sieben Jahre alt, denkt Herr Kranich während er das Kind anschaut. Es hält ein Glas in der Hand in dem ein Goldfisch schwimmt.
Mit dem Bauch nach oben.
Herr Kranich sieht die Frau an und dann den Jungen. Die Frau beobachtet ihn ebenfalls. Herr Kranich beugt sich zu dem Jungen hinunter und öffnet den Mund um etwas zu sagen. Die Frau berührt ihn an der Schulter, schüttelt den Kopf.
„was ist denn?“, fragt der Junge
„einen schönen Fisch hast du da.“
„ja, aber er ist krank.“
„das lässt sich wohl nicht leugnen...was hat er denn?“
„ich weiß nicht, aber Mammi hat gesagt, dass der Tierarzt Nemo wieder gesundmacht.“
Herr Kranich zieht eine Augenbraue nach oben. Das dürfte schwierig werden für den Onkel Doktor.
Die einzige Türe außer der nach draußen geht auf und eine brünette Frau schaut in das Wartezimmer.
„Frau Frostotter?“
„ja“
„kommen sie bitte in Zimmer 2, Herr Doktor Comotan wird gleich bei ihnen sein.“
Die Frau nimmt ihren Sohn bei der Hand und sie verschwinden zusammen mit dem toten Goldfisch namens Nemo im Behandlungszimmer 2.
Herr Kranich nimmt seinen Karton unter seinem linken Arm hervor und schaut den Raben an.
„krah“
„Nun, vermutlich hat du Recht. Ziemlich dumm, dem Kind etwas vorzulügen, nur um ihm nicht den Lauf der Dinge erklären zu müssen. Sie wird es ja letztendlich doch nur hinausschieben können.“
„.....“
leise seufzt Herr Kranich:
„...ich habe gerade mit einem Raben geredet...“
Den Karton auf einem kleinen Tischchen abgestellt nimmt er platz auf einem unbequemen Stuhl aus Metal und Leder.
Er schaut sich um. In dem Zimmer befinden sich noch sechs weitere Stühle dieser Art. Für mehr wäre kein Platz, denn der Raum ist gerade mal vier mal fünf Schritte groß und ein kleines Tischchen in der Mitte auf welchem Zeitschriften liegen nimmt den restlichen Platz ein. Die Zeitschriften sind dieselben, wie man sie in jeder anderen Arztpraxis vorfinden würde. Alte Hefte mit Nachkriegskochrezepten, vergilbten Seiten auf denen Menschen ein strahlendes Lächeln zeigen, Tennis spielen, oder spazieren gehen.
Herr Kranich schaut auf die Uhr, es ist jetzt viertel vor drei. Gelangweilt schweift sein Blick durch den kleinen Raum und landet schließlich bei dem Raben.
Sein Gefieder glänzt Pechschwarz und er scheint mit seinem Schnabel irgendetwas darin zu suchen.
Die Tür zu den Behandlungszimmern geht auf und der kleine Junge kommt heraus. Herr Kranich zieht seine rechte Augenbraue leicht nach oben. Im Glas des Jungen schwimmt ein Goldfisch, nicht auf dem Rücken, sondern so wie ein lebendiger Fisch normalerweise schwimmt.
Der Junge redet irgendwas mit dem Tier, aber Herr Kranich hört nicht zu, er schaut auf den Arzt und die Frau. Sie reden eine Weile, dann schiebt die Frau dem Arzt einen Schein zu, nimmt ihren Sohn bei der Hand und verlässt den Raum.
So ist das also, wenn man keine Lust hat sich mit der Wahrheit zu konfrontieren, dann besticht man sie einfach.
Ich hatte nicht gewusst, dass so etwas funktioniert. Komische Menschen.
Der Arzt schaut zu Herrn Kranich hinüber.
„Sind sie der Mann mit dem Raben?“
„.....“
„Entschuldigung, Herr...sind sie der Mann mit dem Raben?“
„..wie? Ach ja, Kranich, ja, hier in diesem Karton“
„Kommen sie bitte gleich hier mit.“
Herr Kranich folgt dem Arzt durch einen schmalen weisen Flur, vorbei an einer Frau die hinter einem schier unendlich hohen Stapel Papier auf einer Computertastatur herumhämmert und ab und an absetzt um aus einer riesigen Tasse Kaffe zu trinken auf der Ich Herz Morgen steht.
„Stellen sie ihn bitte hier auf den Behandlungstisch“
„ich wusste nicht, wie ich ihn transportieren soll, also nahm ich diesen Karton“
„das ist ok“ und nach einer Pause „mal sehn“
....
„das ist ein schönes Tier“
„ein Rabe“
„ja, natürlich. Er hat sich den Flügel geprellt, vermutlich ist er gegen eine Wand oder so geflogen:“
„Gegen meine Glastüre“
„Gut, ich werde ihm eine Schiene anlegen, leider ist unsere Auffangstation voll besetzt, es wäre sehr hilfreich, wenn sie ihn mit nach Hause nehmen könnten. So ein Tier ist leicht zu Pflegen. Er kann nicht fliegen, also lassen sie ihn am Besten in diesem Karton, legen sie noch eine Decke hinein und eine Schüssel mit Wasser. Zweimal am Tag sollten sie ihn Füttern, aber nicht selbst, sonst kann er nicht mehr ausgewildert werden. Legen sie einfach ein Paar Würmer in seinen Karton, er wird sie schon selbst fressen.“
„Eine Schale Wasser, eine Decke, Würmer hineinlegen.“
Während des Gesprächs hatte der Arzt dem Raben unter Protest eine Schiene angelegt.
„Behalten sie ihn den nächsten Monat im Haus, dann nehmen sie ihm die Schiene ab. Wenn er wieder fliegen kann, lassen sie ihn wieder frei.“
„Wie merke ich, dass er wieder dazu in der Lage ist?“
„Das werden sie schon bemerken“
Jetzt legt er Herr Kranich die Hand auf die Schulter und drückt ihn sanft, aber bestimmt nach draußen.
Auf der Straße begegnet ihm ein Obdachloser.
„Ham se mal n bisschen Kleingeld?“
„nein, und ich würde dir auch keines geben“
Zehn Schritte weiter befindet sich unter einem kleinen Vordach eine grün angestrichene Holzbank. Die Farbe ist schon ein wenig abgeblättert und das Vordach mit Moos bewachsen.
Es beginnt zu schneien. Dicke Flocken bedecken die Straße und den kleinen Unterstand. In einer halben Stunde wird man das Moos darauf nicht mehr erkennen können, dann wird er wieder wie neu aussehen.
Herr Kranichs Bus rollt an, mit einem zischen öffnen sich die Türen und ein junger Mann steht auf der Schwelle. Er scheint sich nicht sicher zu sein, ob er hier aussteigen will. Schließlich tut er es doch und Herr Kranich kann einsteigen. Der Bus ist leer.
Herr Kranich stellt den Karton auf einen orange farbig bezogenen Sitz und setzt sich daneben.
Neben ihm beginnt die Landschaft vorbeizufahren. Häuser tauchen an seiner Seite auf, verschwinden wieder.
Der Bus hält, Herr Kranich nimmt seinen Karton auf und verlässt den Bus. Beim Aussteigen tritt er in einen kleinen Haufen Schnee. Seine Hose wird kalt, aber nicht feucht. Das Wasser ist ja auch gefroren, aber Herrn Kranichs Körperwärme reicht auch nicht aus, es zu schmelzen.
Jetzt spürt er jeden kleinen Windhauch, der um seine Beine streicht.
Zu Hause.
Es schneit immer noch und der Balkon von Herr Kranich könnte jetzt eine Skipiste für ganz kleine Menschen sein.
Er nimmt eine alte Decke aus seinem Schrank und legt sie in den Karton. Jetzt geht er zur Spüle, er überlegt, ob er kaltes, oder warmes Wasser nehmen soll.
„krah“
Herr Kranich schreckt auf. Er hatte in Gedanken versunken nach draußen geschaut, hatte seinen Blick über die gefrorenen Felder streifen lassen, über die Hauptstraße, die in die Stadt führt, zum Himmel und mit den Schneeflocken wieder nach unten zur Erde.
Die Schüssel, die er füllen wollte ist schon lange übergelaufen und hat einen kleinen See auf dem Boden erzeugt.
„Wo bin ich denn nur mit meinen Gedanken.“
So vergeht die erste Woche. Herr Kranich merkt immer häufiger, wie er abschweift, beginnt zu träumen. Das verwirrt ihn, denn normalerweise ist er sonst immer fest gebunden an das Hier und Jetzt. Die Würmer gräbt er aus dem Beet der Frau deren Wohnung er im Tausch bekommen hatte.
Die zweite Woche vergeht und der Rabe und Herr Kranich sind nunmehr fast wie alte Freunde. Wenn er isst, springt der Rabe auf die Lehne des gegenüberliegenden Stuhls, wenn er liest, sitzt der Rabe auf der Rückenlehne des Sessels. Mittlerweile ist es Winter und draußen hat es im Schnitt nur noch 2 Grad.
Die letzten Beiden Wochen vergehen, ein Monat verging wie in Zeitraffer so scheint es Herrn Kranich.
Er sieht hinunter auf seinen Raben.
Natürlich ist es nicht sein Rabe, er hat ihn ja nur auf seinem Balkon gefunden. Das Tier sieht zurück.
Wie in einen schwarzen Spiegel blickt Herr Kranich hinein in die Augen des Raben, hinein in den Raben. Alles was er sieht ist ein alter Mann, ziemlich unauffällig, grau, lang und drahtig.
Er selbst.
Im Raum ist es still. Das heißt, es hat sich nichts verändert. Still war es schon immer, nur hatte es Herr Kranich nie wahrgenommen.
Es muss ein seltsames Bild für einen Außenstehenden abgeben:
Ein großer Raum, ein Bücherregal, ein Sessel, ein Teppich. Auf dem Boden ein Karton.
In dem Karton sitzt ein Rabe und schaut hinauf, zu einem alten grauen langen drahtigen Herrn.
So vergeht eine Minute. Zwei. Drei...die Zeit dehnt sich ins endlose und Herr Kranich steht immer noch da und schaut hinein in seinen Raben.
Er bückt sich, senkt seinen Arm hinunter zu den Raben.
Das Tier klettert hinauf zu Herrn Kranichs Schulter.
Sie gehen auf den kleinen Balkon, auf dem vor einem Monat die Geschichte ihren Blick zum ersten Mal auf den Mann und den Raben warf.
Herr Kranich nimmt die Schiene ab. Der Rabe bewegt seine Flügel als wollte er sie nur schnell ausprobieren.
Die Nachmittagssonne spiegelt sich in seinem schwarzen Gefieder, lässt es glänzen wie Onyx.
Mit einem leichten Flügelschlag ist er oben auf dem Geländer.
Er schaut Herr Kranich an, sagt danke für alles, stürzt sich hinunter in die Tiefe, steigt auf in den grauen Himmel und fliegt seinem Leben entgegen.
Natürlich hat er nicht richtig gesprochen, es ist allgemein bekannt, dass Raben nicht sprechen können, Herr Kranich weiß das, denn Herr Kranich ist Realist.
Es beginnt zu schneien. Herr Kranich geht hinein ins Zimmer. Still ist es wieder, oder immer noch.
Herr Kranich weiß, dass der Rabe nicht zurückkommt, so was machen Raben, oder Vögel überhaupt nicht. Das zu glauben wäre naiv und kindisch.
Er geht in die Küche und nimmt aus einem Schrank eine Hand voll Mandel und geht zum Fenster.
Er öffnet es, legt die Mandeln auf das Fensterbrett in den Schnee hinaus und verlässt dann das Zimmer.
Im Hinausgehen schaltet er das Licht aus und lässt die Geschichte allein im Dunkeln zurück.
Herbst.
Der eigene Atem steigt zum ersten Mal als kleine Dampfwolke vor dem Gesicht auf, die Bäume verlieren ihre Blätter und zeigen gleichzeitig eine Vielfalt an Farben, die einzeln zu beschreiben ein Ding der Unmöglichkeit ist. Dieses Entstehen und Vergehen veranlasst viele Menschen zum Nachdenken. Die, welche keinen Partner haben, werden nachdenklich, vielleicht ein wenig melancholisch und irgendwie scheint sich jeder wieder nach den wärmeren Temperaturen zu sehnen, die im vergangenen Monat vorherrschten.
Jeder klagt, dass es kalt sei und dass der Herbst doch so kurz wie möglich sein möge, schließlich gibt es ja nicht einmal Schnee, trotz der Kälte.
Insgeheim aber ertappen sich viele doch dabei, wie sie gedankenverloren umherwandern und die Zeit des Nachdenkens genießen.
In so einem Monat befinden wir uns also.
Die Blätter fallen, die Tage werden kürzer, die Luft kälter und Herr Kranich besitzt einen Raben.
Das heißt, er besitzt ihn noch nicht lange; eigentlich besitzt er ihn gar nicht, denn der Rabe gehört ihm ja nicht wirklich.
Es ist so, dass Herr Kranich eines Tages nach seinem wöchentlichen Einkauf einen Raben auf seinem Balkon fand.
Herr Kranich ist ein älterer Mann, etwa 50 Jahre alt. Er ist schlank und sehr groß. So groß, dass er schon fast so dünn und knorrig wie eine Vogelscheuche wirkt. Geld hat er nie viel besessen, aber das macht ihm auch nichts aus.
„Das Einzige was zählt, ist der Verstand“, könnte man ihn sagen hören, wenn man mit ihm zusammenleben würde.
Das ist natürlich nur rein theoretisch.
Er wohnt in einem Viertel mit sehr vielen Hochhäusern im siebten Stock in einer kleinen Wohnung, aber das weiß keiner seiner Mitbewohner, denn Herr Kranich redet nicht viel mit den Menschen in seinem Haus. Jeder hat den alten Mann mit der unauffälligen grauen Kleidung schon gesehen, jedoch geredet hat noch keiner mit ihm.
Es ist ein großes Tier, sehr dunkel, schwarz, ein Rabe eben. Er hat sich einen Flügel gebrochen, geprellt oder sonst was, jedenfalls kann er nicht mehr fliegen.
Herr Kranich stellt seine Einkaufstasche auf einem schmalen Tisch gegenüber der Kochstelle ab und sieht durch das sauber geputzte Fenster der Türe auf den Balkon hinaus.
Der Rabe sieht ihn ebenfalls an. Natürlich nicht richtig, denn Raben sind nicht wie Menschen, sie sind Tiere und das weiß Herr Kranich, denn Herr Kranich ist Realist.
Langsam und von einem leisen Quietschen begleitet, öffnete Herr Kranich die Türe und tritt hinaus in die kalte Luft. Der Rabe macht ein paar lahme Versuche zu fliegen und schlägt ein paar Mal mit den Flügeln, als wolle er Herrn Kranich zeigen, dass er sich einen der Beiden gebrochen hat. Oder geprellt, wer weiß das schon so genau.
Herr Kranich sieht den Raben an und der Rabe schaut wieder zurück. Herr Kranich überlegt. Er überlegt sich, ob er dem Raben helfen soll, denn eigentlich soll man nicht in die Natur eingreifen.
Wenn ein Tier stirbt, dann stirbt es, dass ist der Lauf der Dinge.
Andererseits ist Herrn Kranichs sauber geputzte Glastüre nicht natürlich und er hat auch keine Lust einen toten Raben auf dem Balkon liegen zu haben, also kommt er zu dem Entschluss, den Raben zu einem Tierarzt zu bringen.
Der Rabe kräht ein paar Mal.
Das hört Herr Kranich nicht mehr, er ist in seiner Wohnung und sucht einen alten Karton. Es ist nicht wichtig, dass er keinen Deckel mehr hat, der Rabe kann ja ohnehin nicht wegfliegen.
Herr Kranich legt seinen grauen Schal an und zieht seinen Mantel an. Er ist ebenfalls grau und unauffällig, genauso wie der Schal und der Rest von Herrn Kranichs Kleidung.
Mit einem nachdenklichen Blick auf die Stadt, die wie ein riesiges Lebewesen vor, oder besser unter ihm liegt, tritt er noch einmal auf den Balkon hinaus.
Eigentlich hatte er nie eine Wohnung so weit oben haben wollen, aber eine Frau, die jetzt im zweiten Stock lebt, hatte unbedingt nach unten ziehen wollen und Herrn Kranich war es letztendlich egal gewesen.
Der Rabe...
Langsam geht Herr Kranich auf ihn zu. Es ist ja nicht so, dass viel Platz zum vorsichtigen Annähern vorhanden ist, der Balkon ist gerade drei mal zwei Schritte groß. Er nimmt den Raben auf und setzt ihn in den Karton. Nachdenklich blickt er durch eine kleine Dunstwolke auf den Raben hinab. Er sitzt ganz ruhig auf dem Boden des Kartons, versucht nicht einmal davonzufliegen.
Auf der Straße vorm Haus schaut Herr Kranich noch einmal zu seiner Wohnung hinauf, nur kurz, dann macht er sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie liegt nur zehn Schritte entfernt und eigentlich bringt er die Strecke jedes Mal hinter sich ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen, oder angesprochen zu werden.
Nach nur 3 Schritten steht ein kleines Mädchen vor ihm. Herr Kranich schätzt sie auf 6 Jahre.
Sie schaut ihn an, dann auf den Karton:
“ was ist dass denn für ein Vogel?“
„Das ist ein Rabe“
„Der ist aber schön“
„Nun, er ist schwarz“
„Kann der fliegen“
„Nein, ich denke nicht“
„Darf ich ihn mal anfassen?“
„Nein, und jetzt entschuldige mich, kleines Mädchen, denn wenn ich diese nette, aber belanglose Unterhaltung noch weiter führe, dann werde ich meinen Bus verpassen“
Ohne ein weiteres Wort geht Herr Kranich weiter. Das kleine Mädchen schaut ihm mit großen Augen nach und fragt sich, warum der dünne alte Mann sie gerade so angefahren hat und was dieses komische Wort belanglos heißt.
Es ist nicht Herrn Kranichs schuld, dass er so kurz angebunden war gegenüber dem kleinen Mädchen, er hat einfach nicht die nötige Übung im Umgang mit Menschen.
Der Bus kommt zum stehen.
Ein graues Paar Schuhe berühren den Asphalt. Die Schuhe sind nicht gepolstert, sie sind auch nicht bequem. Es sind einfach Schuhe, die dazu dienen einem die Kälte der gefrorenen Erde fernzuhalten. Sie gehören übrigens zu Herrn Kranich.
Er schaut nach links, nach rechts, dann beginnt er zu gehen, unter dem Arm einen Karton in dem ein Rabe sitzt.
Der Tierarztstation befindet sich in einem großen, alten Einfamilienhaus. Es ist weis gestrichen, aber an manchen Stellen ist die Farbe abgebröckelt und einem fleckigen grau gewichen. Auch die Fensterläden sind augenscheinlich schon seit längerer Zeit nicht mehr lackiert worden und so haben Wind und Wetter ihre Spuren daran hinterlassen. Herr Kranich vermutet, dass sie einmal blau gewesen sein mussten.
Er tritt auf einen schmalen Treppenabsatz vor der Tür und drückt einen winzigen runden Knopf, der in die Wand eingelassen ist. Darüber befindet sich ein Sprechkasten und aus dem kommt jetzt die Stimme einer Frau. Sie hört sich ziemlich gelangweilt an.
„ja?“
„Mein Name ist Herr Kranich und ich habe hier in diesem Karton einen Raben.“
„das sehe ich, was ist mit dem Tier.“
„ich denke er hat sich den Flügel gebrochen.“
„wissen sie das genau?“
„nein.“
„warum sind sie dann mit ihm hier her gekommen?“
„nun...er kann nicht fliegen, daraus schloss ich, dass er sich einen Flügel gebrochen hat.“
Zuerst ein „hm“ und dann ein leises „piep“.
Das Türschloss entriegelt sich mit einem leisen “klick“ und Herr Kranich tritt ein.
Früher, als er noch eine Katze hatte war er öfters hier gewesen. Damals war die Türe auch immer offen gewesen. Irgendwann hatten Obdachlose von der Straße begonnen sich im Wartezimmer aufzuwärmen und die Leute nach Kleingeld gefragt und so hatte der Tierarzt eben eine kleine Kamera und eine Sprechanlage vor der Tür installiert.
Herrn Kranich hatten die Obdachlosen nie gestört. Wenn sie ihn nach Kleingeld gefragt hatten, dann hatte er ihnen einfach gesagt, dass sie keines bekommen würden. Somit ließen sie ihn, wenn auch mit gemurmelten Verwünschungen, zufrieden und beschäftigten sich mit den anderen Leuten, die es zuerst mit Ausreden versuchten, letztendlich aber doch in ihren Taschen nach Kleingeld wühlten.
Das war das Problem der Leute, sie konnten einfach nicht die Wahrheit sagen, wie sie war, weil es ihnen unangenehm war. Das hatte Herr Kranich nie verstanden, denn eigentlich wollten die Leute auch in Wahrheit kein Geld hergeben und dass wusste jeder im Raum, taten es dann aber doch, nur um den Anschein zu erwecken, sie wären nicht so geizig wie sie trotz allem waren. Die Menschen sind komisch und das war auch der Grund, warum Herr Kranich sich irgendwann von ihnen distanziert hatte. Von allen.
Im Wartezimmer sitzt eine Frau mittleren Alters mit ihrem Sohn. Sie sieht müde aus, wahrscheinlich war sie ganze Nacht aufgewesen. Sonst ist das Wartezimmer leer.
Vermutlich sieben Jahre alt, denkt Herr Kranich während er das Kind anschaut. Es hält ein Glas in der Hand in dem ein Goldfisch schwimmt.
Mit dem Bauch nach oben.
Herr Kranich sieht die Frau an und dann den Jungen. Die Frau beobachtet ihn ebenfalls. Herr Kranich beugt sich zu dem Jungen hinunter und öffnet den Mund um etwas zu sagen. Die Frau berührt ihn an der Schulter, schüttelt den Kopf.
„was ist denn?“, fragt der Junge
„einen schönen Fisch hast du da.“
„ja, aber er ist krank.“
„das lässt sich wohl nicht leugnen...was hat er denn?“
„ich weiß nicht, aber Mammi hat gesagt, dass der Tierarzt Nemo wieder gesundmacht.“
Herr Kranich zieht eine Augenbraue nach oben. Das dürfte schwierig werden für den Onkel Doktor.
Die einzige Türe außer der nach draußen geht auf und eine brünette Frau schaut in das Wartezimmer.
„Frau Frostotter?“
„ja“
„kommen sie bitte in Zimmer 2, Herr Doktor Comotan wird gleich bei ihnen sein.“
Die Frau nimmt ihren Sohn bei der Hand und sie verschwinden zusammen mit dem toten Goldfisch namens Nemo im Behandlungszimmer 2.
Herr Kranich nimmt seinen Karton unter seinem linken Arm hervor und schaut den Raben an.
„krah“
„Nun, vermutlich hat du Recht. Ziemlich dumm, dem Kind etwas vorzulügen, nur um ihm nicht den Lauf der Dinge erklären zu müssen. Sie wird es ja letztendlich doch nur hinausschieben können.“
„.....“
leise seufzt Herr Kranich:
„...ich habe gerade mit einem Raben geredet...“
Den Karton auf einem kleinen Tischchen abgestellt nimmt er platz auf einem unbequemen Stuhl aus Metal und Leder.
Er schaut sich um. In dem Zimmer befinden sich noch sechs weitere Stühle dieser Art. Für mehr wäre kein Platz, denn der Raum ist gerade mal vier mal fünf Schritte groß und ein kleines Tischchen in der Mitte auf welchem Zeitschriften liegen nimmt den restlichen Platz ein. Die Zeitschriften sind dieselben, wie man sie in jeder anderen Arztpraxis vorfinden würde. Alte Hefte mit Nachkriegskochrezepten, vergilbten Seiten auf denen Menschen ein strahlendes Lächeln zeigen, Tennis spielen, oder spazieren gehen.
Herr Kranich schaut auf die Uhr, es ist jetzt viertel vor drei. Gelangweilt schweift sein Blick durch den kleinen Raum und landet schließlich bei dem Raben.
Sein Gefieder glänzt Pechschwarz und er scheint mit seinem Schnabel irgendetwas darin zu suchen.
Die Tür zu den Behandlungszimmern geht auf und der kleine Junge kommt heraus. Herr Kranich zieht seine rechte Augenbraue leicht nach oben. Im Glas des Jungen schwimmt ein Goldfisch, nicht auf dem Rücken, sondern so wie ein lebendiger Fisch normalerweise schwimmt.
Der Junge redet irgendwas mit dem Tier, aber Herr Kranich hört nicht zu, er schaut auf den Arzt und die Frau. Sie reden eine Weile, dann schiebt die Frau dem Arzt einen Schein zu, nimmt ihren Sohn bei der Hand und verlässt den Raum.
So ist das also, wenn man keine Lust hat sich mit der Wahrheit zu konfrontieren, dann besticht man sie einfach.
Ich hatte nicht gewusst, dass so etwas funktioniert. Komische Menschen.
Der Arzt schaut zu Herrn Kranich hinüber.
„Sind sie der Mann mit dem Raben?“
„.....“
„Entschuldigung, Herr...sind sie der Mann mit dem Raben?“
„..wie? Ach ja, Kranich, ja, hier in diesem Karton“
„Kommen sie bitte gleich hier mit.“
Herr Kranich folgt dem Arzt durch einen schmalen weisen Flur, vorbei an einer Frau die hinter einem schier unendlich hohen Stapel Papier auf einer Computertastatur herumhämmert und ab und an absetzt um aus einer riesigen Tasse Kaffe zu trinken auf der Ich Herz Morgen steht.
„Stellen sie ihn bitte hier auf den Behandlungstisch“
„ich wusste nicht, wie ich ihn transportieren soll, also nahm ich diesen Karton“
„das ist ok“ und nach einer Pause „mal sehn“
....
„das ist ein schönes Tier“
„ein Rabe“
„ja, natürlich. Er hat sich den Flügel geprellt, vermutlich ist er gegen eine Wand oder so geflogen:“
„Gegen meine Glastüre“
„Gut, ich werde ihm eine Schiene anlegen, leider ist unsere Auffangstation voll besetzt, es wäre sehr hilfreich, wenn sie ihn mit nach Hause nehmen könnten. So ein Tier ist leicht zu Pflegen. Er kann nicht fliegen, also lassen sie ihn am Besten in diesem Karton, legen sie noch eine Decke hinein und eine Schüssel mit Wasser. Zweimal am Tag sollten sie ihn Füttern, aber nicht selbst, sonst kann er nicht mehr ausgewildert werden. Legen sie einfach ein Paar Würmer in seinen Karton, er wird sie schon selbst fressen.“
„Eine Schale Wasser, eine Decke, Würmer hineinlegen.“
Während des Gesprächs hatte der Arzt dem Raben unter Protest eine Schiene angelegt.
„Behalten sie ihn den nächsten Monat im Haus, dann nehmen sie ihm die Schiene ab. Wenn er wieder fliegen kann, lassen sie ihn wieder frei.“
„Wie merke ich, dass er wieder dazu in der Lage ist?“
„Das werden sie schon bemerken“
Jetzt legt er Herr Kranich die Hand auf die Schulter und drückt ihn sanft, aber bestimmt nach draußen.
Auf der Straße begegnet ihm ein Obdachloser.
„Ham se mal n bisschen Kleingeld?“
„nein, und ich würde dir auch keines geben“
Zehn Schritte weiter befindet sich unter einem kleinen Vordach eine grün angestrichene Holzbank. Die Farbe ist schon ein wenig abgeblättert und das Vordach mit Moos bewachsen.
Es beginnt zu schneien. Dicke Flocken bedecken die Straße und den kleinen Unterstand. In einer halben Stunde wird man das Moos darauf nicht mehr erkennen können, dann wird er wieder wie neu aussehen.
Herr Kranichs Bus rollt an, mit einem zischen öffnen sich die Türen und ein junger Mann steht auf der Schwelle. Er scheint sich nicht sicher zu sein, ob er hier aussteigen will. Schließlich tut er es doch und Herr Kranich kann einsteigen. Der Bus ist leer.
Herr Kranich stellt den Karton auf einen orange farbig bezogenen Sitz und setzt sich daneben.
Neben ihm beginnt die Landschaft vorbeizufahren. Häuser tauchen an seiner Seite auf, verschwinden wieder.
Der Bus hält, Herr Kranich nimmt seinen Karton auf und verlässt den Bus. Beim Aussteigen tritt er in einen kleinen Haufen Schnee. Seine Hose wird kalt, aber nicht feucht. Das Wasser ist ja auch gefroren, aber Herrn Kranichs Körperwärme reicht auch nicht aus, es zu schmelzen.
Jetzt spürt er jeden kleinen Windhauch, der um seine Beine streicht.
Zu Hause.
Es schneit immer noch und der Balkon von Herr Kranich könnte jetzt eine Skipiste für ganz kleine Menschen sein.
Er nimmt eine alte Decke aus seinem Schrank und legt sie in den Karton. Jetzt geht er zur Spüle, er überlegt, ob er kaltes, oder warmes Wasser nehmen soll.
„krah“
Herr Kranich schreckt auf. Er hatte in Gedanken versunken nach draußen geschaut, hatte seinen Blick über die gefrorenen Felder streifen lassen, über die Hauptstraße, die in die Stadt führt, zum Himmel und mit den Schneeflocken wieder nach unten zur Erde.
Die Schüssel, die er füllen wollte ist schon lange übergelaufen und hat einen kleinen See auf dem Boden erzeugt.
„Wo bin ich denn nur mit meinen Gedanken.“
So vergeht die erste Woche. Herr Kranich merkt immer häufiger, wie er abschweift, beginnt zu träumen. Das verwirrt ihn, denn normalerweise ist er sonst immer fest gebunden an das Hier und Jetzt. Die Würmer gräbt er aus dem Beet der Frau deren Wohnung er im Tausch bekommen hatte.
Die zweite Woche vergeht und der Rabe und Herr Kranich sind nunmehr fast wie alte Freunde. Wenn er isst, springt der Rabe auf die Lehne des gegenüberliegenden Stuhls, wenn er liest, sitzt der Rabe auf der Rückenlehne des Sessels. Mittlerweile ist es Winter und draußen hat es im Schnitt nur noch 2 Grad.
Die letzten Beiden Wochen vergehen, ein Monat verging wie in Zeitraffer so scheint es Herrn Kranich.
Er sieht hinunter auf seinen Raben.
Natürlich ist es nicht sein Rabe, er hat ihn ja nur auf seinem Balkon gefunden. Das Tier sieht zurück.
Wie in einen schwarzen Spiegel blickt Herr Kranich hinein in die Augen des Raben, hinein in den Raben. Alles was er sieht ist ein alter Mann, ziemlich unauffällig, grau, lang und drahtig.
Er selbst.
Im Raum ist es still. Das heißt, es hat sich nichts verändert. Still war es schon immer, nur hatte es Herr Kranich nie wahrgenommen.
Es muss ein seltsames Bild für einen Außenstehenden abgeben:
Ein großer Raum, ein Bücherregal, ein Sessel, ein Teppich. Auf dem Boden ein Karton.
In dem Karton sitzt ein Rabe und schaut hinauf, zu einem alten grauen langen drahtigen Herrn.
So vergeht eine Minute. Zwei. Drei...die Zeit dehnt sich ins endlose und Herr Kranich steht immer noch da und schaut hinein in seinen Raben.
Er bückt sich, senkt seinen Arm hinunter zu den Raben.
Das Tier klettert hinauf zu Herrn Kranichs Schulter.
Sie gehen auf den kleinen Balkon, auf dem vor einem Monat die Geschichte ihren Blick zum ersten Mal auf den Mann und den Raben warf.
Herr Kranich nimmt die Schiene ab. Der Rabe bewegt seine Flügel als wollte er sie nur schnell ausprobieren.
Die Nachmittagssonne spiegelt sich in seinem schwarzen Gefieder, lässt es glänzen wie Onyx.
Mit einem leichten Flügelschlag ist er oben auf dem Geländer.
Er schaut Herr Kranich an, sagt danke für alles, stürzt sich hinunter in die Tiefe, steigt auf in den grauen Himmel und fliegt seinem Leben entgegen.
Natürlich hat er nicht richtig gesprochen, es ist allgemein bekannt, dass Raben nicht sprechen können, Herr Kranich weiß das, denn Herr Kranich ist Realist.
Es beginnt zu schneien. Herr Kranich geht hinein ins Zimmer. Still ist es wieder, oder immer noch.
Herr Kranich weiß, dass der Rabe nicht zurückkommt, so was machen Raben, oder Vögel überhaupt nicht. Das zu glauben wäre naiv und kindisch.
Er geht in die Küche und nimmt aus einem Schrank eine Hand voll Mandel und geht zum Fenster.
Er öffnet es, legt die Mandeln auf das Fensterbrett in den Schnee hinaus und verlässt dann das Zimmer.
Im Hinausgehen schaltet er das Licht aus und lässt die Geschichte allein im Dunkeln zurück.